Dienstag, 23. Oktober 2012

Begegnungen in Hamburg

Darüber, dass Hamburg eine großartige Stadt ist, wurde sicher schon eine Menge geschrieben. Um die Sehenswürdigkeiten soll es in diesem Beitrag daher nicht gehen, sondern um die Menschen, mit denen wir Kontakt hatten. Wir - das sind unsere Nachbarn, meine Frau und ich. Am vergangenen Wochenende (19.10. - 21.10.2012) fuhren wir mit der Bahn von Leipzig nach Hamburg. Wir besuchten das Musical Tarzan, das Dungeons, die Speicherstadt, St. Pauli, den Park Planten un Bloomen. Wir hatten eine große Stadtrundfahrt im roten Doppeldeckerbus, eine große Hafenrundfahrt, eine Führung über Reeperbahn, Herbertstraße, Große Freiheit; und ein Bier im Safari. Unser Hotel war das Mercure. Alles kann ich weiterempfehlen, bis auf das Abendessen im Veermaster, einem Folklorelokal auf der Reeperbahn.

Straßenkünstler

Unsere erste interessante Begegnung hatten wir am Freitag auf dem Hamburger Hauptbahnhof. Nachdem wir am frühen Nachmittag mit dem Zug angekommen waren, hatten wir unser Gepäck in Schließfächer eingeschlossen, um ohne Ballast die Stadt- und die Hafenrundfahrt zu unternehmen. Als wir dieses später wieder abholten, um damit per SB-Bahn zum Hotel zu fahren, sprach uns ein junger Mann an und bot uns eine Gruppenfahrkarte für den Nahverkehr an. Seine Geschäftsidee: er kauft Abreisenden die Nahverkehrsfahrkarten ab, die noch eine nennenswerte Restgültigkeit besitzen, und verkauft sie Anreisenden mit einem Aufschlag weiter. Das funktioniert deshalb, weil in Hamburg die Tickets in der S-Bahn oder U-Bahn nicht entwertet werden. Die Idee ist wirklich klasse, da es dabei drei Gewinner gibt (ich sage nicht, dass es dabei nur Gewinner gibt). Leider waren wir Provinzlinge zu skeptisch und sahen vor unserem geistigen Auge bereits einen Ticketdealer mit unseren Portemonnaies davonlaufen.

Vielleicht waren seine Klamotten zu schmutzig. Möglicherweise war er nicht überzeugend genug oder es drängelte uns einfach die Zeit. Vielleicht wollten wir nicht auf einen vermeintlichen Nepp hereinfallen, der uns bei einer Fahrkartenkontrolle teuer zu stehen gekommen wäre. Wir nahmen sein Angebot nicht an. Stattdessen bot ich ihm zwei Euro als milde Gabe - auch dafür, dass er uns bei der Wahl des richtigen Tickets am Automaten behilflich war. Er nahm sie nicht an: "Das will ich nicht, da fühle ich mich schlecht."

Am Samstagmorgen schlenderten wir durch den Park "Planten un Bloomen", wo uns allein aufgrund unseres Dialekts leicht als Ortsunkundige Erkennbare eine wahre Welle der Hilfsbereitschaft entgegenschlug. Als wir einander fragten, wo der Japanische Garten sei, gab eine Iranerin Auskunft. Investigativ erfragte sie anschließend unsere Herkunft und ordnete diese korrekt als "hinter der Mauer" befindlich ein. Die Methode, sich lauthals in der Gruppe selbst nach dem Weg zu fragen, erwies sich übrigens im selben Park ein weiteres Mal als erfolgreich.

Interessant war auch die Begegnung mit einem Rentner, der mich ansprach, nachdem ich ihn auf dem Weg in die Speicherstadt beim Fotografieren fotografiert hatte. Er gab preis, dass er Teilnehmer eines Foto-Kurses sei. Sein Auftrag lautete, Menschen zu fotografieren, die ihm auf eine Frage mit "Nein" antworten. Leider habe ich die Frage vergessen. Als er mich gefragt hatte, habe ich wahrheitsgemäß mit "Nein" geantwortet und verneinend in sein Objektiv geschaut. Inzwischen wird sich sein Fotoclub wohl köstlich über die Grimassen des Tages amüsiert haben.

Spurensuche für den Foto-Kurs

Auch am Geocache an den Magellan-Terrassen blieben wir nicht unter uns. Gerade, als wir die Dose geborgen hatten, begann ein Cacherpärchen das Fernrohr zu untersuchen, unter dessen Podest sie befestigt war. Wir gaben den beiden das Logbuch in die Hand.

Mit Dir nimmt es ein schlimmes Ende. Dies prophezeite mir ein Betrunkener, an dem wir auf unserem Weg in den Stadtteil St. Pauli vorbeigingen. Überhaupt sahen wir einige Obdachlose, Bettler und Flaschensammler.

Bettlerin?

An der U-Bahn-Station Millerntorplatz auf St. Pauli trafen wir auf den ehemaligen (?) Zuhälter Hans Jürgen Schmitz, der heute im Alter von knapp 70 Jahren für Olivia Jones Touristen über die Reeperbahn führt, weil er vergessen hatte, in die Rentenkasse einzuzahlen, als die Zeiten noch besser waren. Früher war alles anders, Kinder. All seine Bekannten sind tot. Und bald wird die Ritze weggerissen. Leider Gottes.

Er schaffte es, seine Geschichten mit den Originalschauplätzen zu verbinden, die es noch gibt: der Boxring in der Kneipe "Zur Ritze" beispielsweise, die Davidwache und die Herbertstraße, Zutritt nur für Männer. Und er führte uns zu den Originalschauplätzen, die es nicht mehr gibt: das Café Miller ist nur noch eine Hülle (ein Buchstabe leuchtet noch) und irgend eine in den 1960ern angesagte Kiezdisco ist heute ein italienisches Restaurant, dessen Besitzer sich wundert, warum regelmäßig geführte Gruppen davor Station machen, ohne einzutreten.

Der Blonde Hans lässt sich nicht lumpen: Astra an der Esso-Tankstelle auf St. Pauli.

Dank Schmitz und eines Fünfeuroscheins pro Person erhielten wir Eintritt in ein Bordell und die Dienst habende Domina führte uns als Gruppe von zehn Männern mit in ihre Dachkammer. Dort nahm sie Platz auf dem Gestänge an der Kopfseite des Doppelbetts: "Was wollt Ihr wissen?" Da wir nun einmal zum Quatschen hier waren, stellten wir unsere Fragen. Wie alt sie sei (36), ob das Zimmer mit einem Panic-Button ausgestattet sei ("Ja, habe ich aber noch nie benutzt."), seit wann sie das mache (seit zehn Jahren, sie sei Quereinsteigerin mit konventionellem Berufsabschluss und Meisterbrief) und ob sie einen Zuhälter habe (hat sie). Sie habe einen Freund und Spaß an ihrem Job, was man aber nicht mit sexueller Erregung verwechseln solle. Wir verabschiedeten uns artig und beendeten mit Hans die Führung.

Die beiden letzten berichtenswerten Begegnungen ereigneten sich am Sonntag auf dem Hauptbahnhof, kurz vor der Abreise. Wir diskutierten gerade lautstark darüber, zu welchem Preis wir unsere Nahverkehrstickets verticken sollten und wurden nach dem Weg gefragt. Auf englisch. Von einer Deutschen. Diskriminierung vierer Sachsen.

Außerdem hatte ein junger Mann ein Problem mit seinem Handy, so dass er mich fragte, ob er mein iPhone benutzen dürfe. Wieder lief der Film im Kopf ab: ich übergebe das Telefon, Mann rennt damit weg. Sei nicht so provinziell, am Ende fühlt sich wieder einer schlecht. Ich übergebe das iPhone an den Heavy-Metal-Fan (Haare, Wacken-Band). Er ruft jemanden an, erreicht aber niemanden und gibt das Telefon zurück. Kurze Zeit später fragt er mich, ob er iMessage nutzen dürfe und setzt eine Nachricht ab. Natürlich rief der vergeblich Angerufene zurück, als wir im Zug saßen. Drei mal rannte ich, die Verbindung haltend, durch den Zug.